Auf dem Weg in künstliche Welten

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.03.2016, Nr. 68, S. 22

Wie kleine Unternehmen an Angeboten für die virtuelle Realität arbeiten / Rundgang auf den Spuren des Reformators Martin Luther

magr. HANNOVER, 20. März. Wer in der vergangenen Woche auf der Computermesse Cebit auf den Spuren des Zauberschülers Harry Potter wandeln wollte, musste es der Hauptfigur aus der Jugendromanreihe gleichtun und eine Brille aufsetzen. Allerdings hätte das in Hannover verwendete Modell nicht weiter weg sein können von dem runden Nickelgestell, das der Nachwuchszauberer in den Filmen stets trug. Die Harry-Potter-Wiedergänger auf der größten Informationstechnikmesse der Welt mussten sich einen rechteckigen, klobigen Kasten über die Augen ziehen und dazu noch Kopfhörer aufsetzen. Dann konnten sie auf einem drehbaren Ungetüm Platz nehmen, das den fliegenden Zauberbesen aus den Filmen ähnelte. Auf diesem Untersatz konnten sie mitten auf dem Messegelände für einige Momente virtuell durch die Welt aus den Büchern der Autorin Joanne K. Rowling schweben.

Die dabei zum Einsatz kommende Datenbrille stammte vom Hersteller Oculus, einer Tochtergesellschaft des sozialen Netzwerks Facebook. Der Besen aber kam von dem deutschen Kleinunternehmen Locomotion VR, das mit Inhalten für die virtuelle Realität Geld verdienen möchte. Zusammen zogen Brille und Besen während der Cebit viele Besucher in der Messehalle 11 an. Der Ritt durch die virtuelle Harry-Potter-Welt stand damit exemplarisch für eine ganze Reihe von Angeboten, die auf der Messe zeigen sollten, wie das Trendthema virtuelle Realität in die Wirklichkeit umgesetzt werden kann. Im Falle von Locomotion VR lautet das Angebot, virtuelle Inhalte zu bieten, die "nicht, noch nicht oder nicht mehr" zu erleben seien, wie das Unternehmen auf einer Schauwand neben dem Besen erklärte. Die virtuelle Realität lasse sich in vielen Sparten einsetzen, etwa in Unterhaltung, Bildung, Kultur oder Wissenschaft. "Wir sehen sie als Erweiterung an und nicht als Ersatz der Realität an."

Fachleute rechnen damit, dass diese Erweiterungen der Wirklichkeit ein wachsender Markt sein werden. Das Marktforschungsinstitut Gartner geht davon aus, dass Datenbrillen für Verbraucher wie das Exemplar Vive des Herstellers HTC oder die Brille namens Hololens aus dem Hause Microsoft künftig eine schnell wachsende Gerätekategorie sein werden. Demnach soll der Absatz von weniger als 100 000 Stück im Jahr 2014 auf mehr als 13 Millionen im Jahr 2018 steigen. Die erste Inhaltekategorie, die davon profitieren wird, werden aller Voraussicht nach Computerspiele sein. Doch auch Filmproduzenten und Sportrechteinhaber werden laut dem Gartner-Marktforscher Brian Blau ihre traditionellen Inhalte mit Angeboten für Videobrillen erweitern. So würden Filme oder Sportereignisse interaktiv und auf den einzelnen Konsumenten zugeschnitten sein und gleichzeitig mit mehr Bedeutung versehen, sagt Blau. Der Nutzer soll in Zukunft mehr erleben, als nur starr auf eine Mattscheibe zu blicken.

Menschen mehr erleben zu lassen ist auch das Ziel der Unternehmer Steffen Melzer und Daniel Mischner aus Halle. Sie arbeiten mit ihrer Agentur Virtiv für Unternehmen, Universitäten oder Tourismusverbände und erstellen 360-Grad-Rundgänge durch Produktionshallen, Universitätsgelände und Sehenswürdigkeiten. Auf der Cebit zeigten Melzner und Mischner einen Rundgang auf den Spuren des Reformators Martin Luther, den sich Interessierte von Anfang April an per App auf ihre Smartphones laden können. Im Auftrag des Tourismusverbandes Mansfeld-Südharz fotografierten Melzer und Mischner mit speziellen Kameras verschiedene Stätten, an denen Luther gelebt oder gewirkt hatte. Sie lassen sich nun auch von zu Hause von jedermann virtuell aufsuchen. Dabei fungiert das Smartphone als Bildschirm, den der Nutzer in ein brillenartiges Gestell schiebt, wie sie zum Beispiel der Smartphone-Hersteller Samsung anbietet. Mit Hilfe von Linsen kommen diese Datenbrillen der hochwertigen Konkurrenz mit einem eigenem Bildschirm schon recht nahe. Angefangen hatten Melzer und Mischner vor fünf Jahren noch mit 360-Grad-Panoramen und Rundgängen, die auf Desktop-Computern oder Laptops laufen. Der Einsatz dieser Inhalte auf Datenbrillen ist für sie der nächste logische Schritt. Und das Interesse von Unternehmen daran sei hoch, berichtete Melzer auf der Cebit. "Virtuelle Realität ist gerade ein Hypethema", sagte er. Selbst einzelne Autohäuser kämen inzwischen auf seine Agentur zu, um sich Rundgänge für ihre Verkaufsräume erstellen zu lassen. Das wirkt sich auch auf das kleine Hallenser Unternehmen aus. Bisher arbeiteten die beiden Gründer mit zwei festangestellten Mitarbeitern zusammen. Inzwischen suchen sie nach Nachwuchs, vor allem für die Programmierung und die Fotografie der virtuellen Welten.